4 Mayıs 2019 Cumartesi

Ruf nach Frieden in der Türkei, HLZ, Zeitschrift der Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung, 4 April 2019



Gaye Yilmaz - Tolga Tören

Nach der Wahl im Juni 2015 wurden die Friedensgespräche zwischen der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), der türkischen Regierung undder Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) abgebrochen. Der bewaffnete Konflikt im Südosten wurde zu einem der wich-tigsten Punkte in der politischen Agenda der Türkei. Im August 2015 richtete die Regierung pauschale, rund um die Uhr geltende Ausgangssperren in 22 Städten ein und schickte das Militär. Während der Militäreinsätze wurden die Medien und Nichtregierungsorga-nisationen daran gehindert, Menschen- rechtsverletzungen der Sicherheitskräf-te zu dokumentieren.

Nach dem Report der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte über die Menschen rechtssituation in der Südost-Türkei von Juli 2015 bis Dezember 2016 wur- den in dieser Zeit fast 2.000 Menschen von den Sicherheitskräften in Militär-einsätzen getötet. Der Report dokumentiert zudem von den Sicherheitskräften ausgeübte Gewalt, Folter, die Zerstö- rung von Unterkünften und kulturel- lem Erbe, die Behinderung der Versor- gung bei medizinischen Notfällen und mit Lebensmitteln und Wasser sowie Gewalt gegen Frauen.

Als eine Reaktion verabschiedete die2012 zur Unterstützung eines Hunger-streiks kurdischer Häftlinge gegründete Organisation "Academics for Peace" (Barıs Için Akademisyenler, BAK) am 11. Januar 2016 eine Petition mit dem Titel "Wir werden nicht Teil dieser Verbrechen sein", die auch als "Friedenspetition" bekannt wurde. Präsident Recep Tayyip Erdog ̆an beschimpfte die über 1.000 Unterzeichnerinnen und Unter- zeichner als "so genannte Intellektuelle". Sie seien "keine erleuchteten Menschen", sondern "dunkel". Für ihn gibt es keine "kurdische Frage", den Wunschder Kurdinnen und Kurden nach Frieden bezeichnet er als "Terror". Trotzdem ist die Zahl der Unterzeichnenden auf jetzt 2.212 angestiegen.

Der Rat für Hochschulbildung lei- tete rechtliche Schritte gegen die Unterzeichnenden ein, die von der Presse, von rechtsextremen Social-Media- Gruppen und von mafiösen Strukturen als "Verräterinnen und Verräter" ins Visier genommen wurden. Zeitgleich gab es strafrechtliche Ermittlungen, Festnahmen und Anklagen aufgrundvon Social-Media-Accounts. Nach demPutschversuch am 15. Juli 2016 stiegdie Zahl der Entlassungen drastisch an.Gehälter wurden gekürzt, Reisepässe entzogen.

Angeklagte, die zu einer Freiheits- strafe von weniger als zwei Jahren verurteilt werden, haben die Option, dass das Gericht die Urteilsverkündung aufschiebt und die Entscheidung nicht verkündet. Die Strafe wird in diesem Fall nicht in das Strafregister aufge- nommen, solange der oder die Ange- klagte in einem bestimmten Zeitraumnicht für ein anderes Verbrechen schul-dig gesprochen wird. Wer diese Option wählt, wird allerdings der Möglichkeit beraubt, sich an ein Berufungsgericht (Istinaf) zu wenden. Im Januar 2019 wurden in 69 Fällen Urteile aufge- schoben. Elf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Petition unter- schrieben hatten und eine Aufschie-bung ablehnten, wurden zu Haftstrafenvon 15 Monaten (7), 18 Monaten (2), 27 Monaten (1) bzw. 30 Monaten (1) verurteilt. Gegen 571 Unterzeichnerin- nen und Unterzeichner wurden Straf- verfahren eingeleitet. Bisher sind 130 Urteile ergangen, 7 Fälle sind bei Beru- fungsgerichten anhängig. Am 3. März 2018 bestätigte das regionale Beru- fungsgericht in Istanbul die Gefäng- nisstrafe von Professor Füsun Üstel, der zuvor wegen der Verbreitung von "terroristischer Propaganda" zu einem Jahr und drei Monaten Haft verurteilt worden war. Bisher gab es keinen ein- zigen Freispruch. (1)

Trotz aller Widrigkeiten stellen die Mitglieder von BAK in der Türkei ihr Engagement nicht in Frage. Ein sehr lebhaftes Solidaritätsnetzwerk organi-siert Kundgebungen bei allen Gerichts-verfahren gegen ihre Kolleginnen und Kollegen in Istanbul und organisiert inverschiedenen Städten der Türkei alter-native Bildungsangebote.

Viele Mitglieder der "Academics for Peace" haben die Türkei verlassen und leben jetzt in Deutschland, Frankreich, Belgien, England oder in den USA. Wer im Exil ist, versucht – so wie wir es zum Beispiel in Deutschland tun – zu über- leben. Ohne Studierenden- oder Ange- stelltenstatus muss man mit der Gesetz- gebung kämpfen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden mit den prekären Arbeitsbedingungen im Wis- senschaftsbetrieb in Deutschland kon- frontiert, wie sie die GEW seit Jahren problematisiert. Sie müssen die in der Türkei verbliebenen Kolleginnen und Kollegen unterstützen und zugleich mit den Kolleginnen und Kollegen zusam- menkommen, die sich mit ihnen im neu- en sozialen Umfeld solidarisch zeigen.

Im Oktober 2017 gründeten in Deutschland lebende Mitglieder von BAK den Verband "Academics for Peace Germany" (AfP-Germany), der von deutschen Kolleginnen und Kol- legen, die sich für die Werte der aka- demischen Freiheit und der Meinungs- freiheit engagieren, unterstützt wird. AfP-Germany organisiert und unter- stützt Solidaritätskampagnen für die in der Türkei verfolgten Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler und stellt Kontakte zu Menschenrechtsorganisati- onen, NGOs, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und zur internationalen Presse her, die die Repressionen gegen die Mitglieder der "Academics for Peace" in der Türkei aufgreifen.

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Dr. Gaye Yilmaz und Dr. Tolga Tören sind Mitglieder der „Academics for Peace“ und Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler am International Center for Development and Decent Work (ICDD) an der Universität Kassel.


Übersetzung: Isabel Carqueville, Nina Ul- brich & Felix Hauf


(1) https://barisicinakademisyenler.net

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